7 Wochen Schweigen
Ich sag es direkt und unverblümt: Ihr könnt mich mal!
Zugegeben, ich hatte mehr Zeit als mein Umfeld mich mit meiner Krebs-Diagnose zu beschäftigen. 7 Wochen Vorsprung habe ich mir gegönnt. Es war von Anfang an klar, dass es sehr wahrscheinlich sein würde, dass diese Krebserkrankung vorliegt. Solange ich nicht die 100%ige Gewissheit hatte, habe ich aber allen ihre Hoffnung gelassen – sogar meiner Frau und meinen Eltern habe ich nicht mal angedeutet, wie ernst es tatsächlich war.
Ich tat es aus zwei Gründen: Zum einen wollte ich ihnen die Hoffnung nicht rauben. Wäre am Ende herausgekommen, dass doch nichts ist, hätte ich sie für nichts und wieder nichts verrückt gemacht. Zum anderen – und das war mir viel wichtiger – wollte ich meine Ruhe haben. Ich wollte das Ganze zuerst selbst mit mir ausmachen. Ohne Einmischung von außen. Das würde ohnehin früh genug kommen.
Krebs ist kein Todesurteil
Ich lag also im Krankenhaus – zuerst noch ganz allein im Zimmer. Anfangs fand ich es äußerst unfair. Für mich war Krebs = Todesurteil. Allein das Wort in den Mund zu nehmen oder zu denken… Für mich war Krebs immer der Endgegner – der Weltboss in einem Arcade-Spiel, den man nicht bezwingen kann. Ich hatte Angst davor daran zu erkranken und dann elendig daran zu verrecken. Immer wieder hört man diese Horrorgeschichten und sie haben sich auch in mein Gehirn eingebrannt. Und jetzt lag ich da mit dieser Diagnose.
Der Gedanke daran sterben zu müssen, war nicht wirklich erfreulich, aber ich hatte von Anfang an auch ein anderes Gefühl, einen anderen Gedankengang: Hatte ich nicht wahnsinniges Glück gehabt? Ja, der Tod hat angeklopft. Er hat mich daran erinnert, dass ich etwas habe, das mir nicht gehört. Etwas, dass ich als Leihgabe erhalten hatte. Wenn der Tod ein Arschloch wäre, hätte er mir auch einen LKW schicken können oder den sprichwörtlichen Blitz beim Scheißen. Hat er aber nicht – noch nicht. Er kam als Freund mit einer Erinnerung im Gepäck und ich verstand: Ich lebe noch und es geht mir gut!
Was will ich eigentlich?
Also begann ich neu zu denken. Wenn ich noch lebe und wenn es mir gut ging, dann musste ich schnell rausfinden, was ich noch tun will – was ich noch erleben will. Wenn ich das wüsste, müsste ich sofort loslegen und darauf hoffen, dass ich noch alles schaffe, was ich tun wollte.
Mit dieser Mischung aus innerer Klarheit und Angst vor dem nahenden Tod war einer meiner ersten Gedanken: Ich wäre so gerne noch ein Großvater. Ich hätte so gerne noch Enkelkinder. Ich dachte darüber nach und erkannte, dass ich 2000 Jahre alt werden könnte, aber dass das keine Garantie wäre Opa zu werden. Es liegt überhaupt nicht in meiner Hand! Wenn nicht eines meiner Kinder würde eigene Kinder haben wollen, dann werde ich niemals ein Großvater! Ich stolperte also schon beim ersten Gedanken gewaltig!
Lass los – auch wenn es schwerfällt
Es musste also ein neuer Denkansatz her! Ich machte ein Brainstorming und schon während des Schreibens fiel mir auf, dass ich vieles gar nicht in der Hand hatte. Mir dämmerte, dass große Teile meines Lebens von anderen abhängig sind. Das störte mich! Genau das wollte ich doch nie. Eigenverantwortung! Ich habe sie immer gepredigt. Ich dachte immer, ich würde sie auch leben und dann sowas?!?!? Die Erkenntnis traf mich noch härter als die Krebsdiagnose. Ehrlich! War ich so ein Lappen? JETZT hatte ich auf jeden Fall etwas sinnvolles auf meiner To-Do-Liste.
Als ich mit dem Brainstorming fertig war, strich ich alles, was zu 100% von anderen abhing. Rund 80% der Liste verschwand unter dicken, schwarzen Strichen. Das, was übrigblieb, waren eine Hand voll Vorhaben, die ich nicht nur selbstbestimmt erledigen konnte – nein – sie waren auch noch zeitunabhängig. Zeitunabhängig in dem Sinne, dass sie kein Ende hatten. Ein Beispiel: Ich will reisen. Das hat nie ein Ende. Nie ein Ziel, welches den Abschluss markiert. Ich kann es tun, so oft, wie es nur geht. Irgendwann ist damit Schluss – völlig unabhängig davon, ob ich gesund bin, krank bin, lebendig, tot, arm, reich… Es spielt auch keine Rolle, wohin ich reise, wie ich reise oder mit wem und wie lange. Reisen war schon immer mein Ding.
Ausreden, Erwartungen und andere Spielverderber
Aber es kam die Frage auf, warum bin ich eigentlich nicht noch mehr gereist? Was hat mich zurückgehalten? Geld? Zeit? Andere Gründe? Die Antwort war ernüchternd und ich fand sie zuerst in dem, was mir jetzt gerade passiert und weniger in der Vergangenheit. Als ich auf meine erste Reise nach der Krebsdiagnose ging, stellte ich im Vorfeld fest, dass mir zwar die Mehrheit meines Umfelds ins Gesicht sagte, dass ich es genießen solle, und sie wünschten mir Spaß, Glück, Erfüllung…und was weiß ich nicht alles, aber…! Natürlich spürte ich das „aber“. Ihr Tonfall, ihre Mimik, ihre Blicke verrieten mir etwas anderes. Einige hatten sogar den Mut mir ihre Bedenken mitzuteilen: „Ist das eine gute Idee, mit deinen Erkrankungen diese Art von Reisen auf dich zu nehmen? Wäre es nicht klüger, etwas mehr auf dich zu achten?“
Echt jetzt? Unheilbar krank und ich soll auf mich achten?!?! Ganz im Ernst: Wozu sollte ich das bitte tun? Um länger zu leben? Ich erlebe gerade in meinem direkten Umfeld, wie ein Mensch stirbt. Ich beobachte und begleite diesen Prozess schon seit einiger Zeit. Jetzt ist der Tod für diesen Menschen sehr nahe. „Pflegebedürftig“ bezeichnet man den Zustand. Wenn man sieht und erlebt, was das bedeutet, wenn man miterlebt, dass sich die Person nicht einmal mehr allein hinsetzen kann oder umdrehen kann, dann stellt sich mir die Frage: Ist das ‚leben‘? Für mich ist es das nicht! Für mich ist das „Tage zählen“. Es geht nur noch darum noch einen Tag hinzuzufügen. Wie die Strichliste an der Zellenwand eines Knastbruders. Was bringen diese Tage. Dieser Mensch, den ich so sehen muss, liegt nicht jubelnd in seinem Bett und sagt: „Yeah, noch ein Tag. Das Leben ist schön!“
Leben ums Verrecken
Ich will leben. Ich will erleben. Hören, sehen, riechen, schmecken, spüren…SELBSTBESTIMMT! Jetzt geht das noch – und es geht hervorragend. Ja, auf einem Stück Papier steht „Multiples Myelom“, aber ich spüre es (noch) nicht. Irgendwann hat es mich (wenn mich vorher nichts anderes erwischt). Aber bis dahin kann ich alles tun. Es gibt kein Limit. Es gibt keine Grenzen – und wenn doch, dann werde ich sie spüren, sobald ich sie erreiche oder gar überschreite!
Wenn Krabben dich ausbremsen wollen
Eine Kollegin sagte zu mir: „Man muss aufpassen, dass man nicht verbittert oder vereinsamt.“ Sie war die Erste, der mein innerer Wandel aufgefallen ist und sie war die Erste, die mich hat spüren lassen, dass ihr genau dieser Wandel nicht gefällt. Sie sollte nicht die Letzte sein. Das, was sie getan hat, nennt man den Krabbenkorb-Effekt:
Viele Krabben sind in einem Korb gefangen. Eine versucht ihrem Gefängnis zu entkommen und schafft es an den Rand des Korbs zu klettern. Die anderen Krabben freuen sich nicht etwa und unterstützen sie bei ihrem Fluchtversuch. Im Gegenteil! Sie ziehen sie zurück in den Korb!
Gerüchte – Der Kleister, der die Gemeinschaft am Leben hält
Wenn du anfängst dich zu verändern – radikal und ohne Vorwarnung – dann wirst du für dein Umfeld unberechenbar. Du funktionierst nicht mehr, wie sie es gewohnt sind. Das macht dich „gefährlich“. Du wirst zur Bedrohung, weil man dir nicht mehr trauen kann…und genau so wirst du auch behandelt. Niemand weiß mehr, wie er dich packen kann. Wie kann man mit dir umgehen? Dann kommt auch noch der Krebs dazu! Ich habe nach meinen 8 Wochen Krankschreibung tatsächlich mit Menschen gesprochen, die mir ins Gesicht gesagt haben: „Ich hatte gehört, du wärst gestorben.“
Klingt abwegig? Nicht im Geringsten! Prüft selbst einmal ernsthaft und ehrlich, wie die Gerüchteküchen in eurem Leben brodeln. Was da für ein Unsinn zusammengebraut wird – und vor allem aus welchen Zutaten! Eine Woche Fernbleiben – ohne Begründung – haben dazu geführt, dass es einem Bekannten mindestens einen Herzinfarkt oder gar eine schwere Krebserkrankung geben musste. Dann wurde im Laufe der Zeit häusliche Gewalt daraus gestrickt bis hin zum Selbstmord in der Familie. Nichts davon war es! Eine kleine Ehekrise. Nach einer Woche Abwesenheit, war er wieder wie gewohnt an seinem Arbeitsplatz und alles war in Ordnung.
So funktionieren wir in Gesellschaft. Eine Gemeinschaft duldet keine Veränderung -egal wie groß oder klein die Gemeinschaft ist. Egal wie groß oder klein die Veränderung ist. Im Großen nennen wir heute anders denkende "Verschwörungstheoretiker". Vor noch nicht allzu langer Zeit haben diese Menschen schlicht von der Meinungsfreiheit gebrauch gemacht und man hat es hingenommen. Im Kleinen ist das kaum anders. Da biste ruckzuck raus aus dem Clübchen und der Rest redet sich glücklich. Schließlich war es nicht deren Schuld, dass du so abdrehst.
Ich kann aber nicht zurück! Es ist nicht meine Krebserkrankung, die mich antreibt. Es ist die Erkenntnis, dass mein Leben endet. „Ja, das weiß doch jeder.“, höre ich in letzter Zeit immer wieder. Wissen nützt aber nichts. Wir haben das Wissen der Welt auf unserem Smartphone in unserer Hosentasche und könnten es jederzeit abrufen, aber die Leute waren noch nie so dämlich, wie heute! Wenn wir aus dem Wissen nichts machen, dann ist es sinnloses Wissen!
Wissen vs. Erkenntnis
Das, was ich erlangt habe, betrachte ich auch nicht als Wissen, sondern als Erkenntnis. Ein großer Unterschied, wie ich finde. Gehen wir einmal in der Zeit zurück. Wir lernen Krabbeln und wir lernen Laufen. Was wir nicht tun, ist ab unserem 30. Geburtstag wieder zu krabbeln: „Och, ich bin jetzt lange genug gelaufen. Ich krabbele ab sofort wieder.“ Vielleicht versteht ihr es jetzt besser. Ich kann nicht mehr zurück. Es fühlt sich falsch an. Ich bin aus dem Korb entkommen.
So traurig das klingen mag, aber ich komme nicht wieder zurück. Ich wusste immer, dass ich „irgendwie“ in Erwartungen gefangen war. Ich wollte immer raus. Jetzt habe ich es geschafft – und es gibt sie! Es gibt die, die das begrüßen. Die, die damit umgehen können. Nicht weil sie mir sagen, dass sie damit umgehen können, sondern die, die es leben! Sie lassen mich spüren, dass sie sich ernsthaft über meinen Wandel freuen. Sie nehmen es einfach hin. Kein Tamtam. Keine Trommelwirbel und keine platten Phrasen. Einfach so. Fertig.
Fazit
Ich wünsche mir sehr, dass euch das auch gelingt. Ich weiß aber auch, dass es den wenigsten gelingen wird. Dennoch: Probiert es. Bleibt am Ball. Durchhalten und nicht von gelegentlichen Rückschlägen einschüchtern lassen. Beharrlichkeit zahlt sich aus. Wenn ihr immer weitergeht, dann kommt ihr irgendwann an!