Egoist oder Selbstfürsorger? Eine provokanter Gesprächseinstieg
"Bist du ein Egoist?"
Diese Frage war die erste, die mir von einer Person gestellt wurde, mit der ich noch nie zuvor ein Wort gewechselt hatte. Sie kam noch vor der Begrüßung.
Selbstverständlich war sie als Provokation gemeint. Für den Bruchteil einer Sekunde war ich überrumpelt – aber ich kenne meine Antwort nur zu gut. Sie lautet: Nein.
Ich möchte an dieser Stelle die Identität dieser Person schützen. Nur so viel: Ich schätze sie sehr. Seitdem haben wir viele Worte gewechselt und ich hoffe, es werden noch mehr. Aber zurück zum eigentlichen Thema.
Obwohl ich mir diese Frage schon oft selbst gestellt habe und sie genauso oft mit „Nein“ beantwortet habe, ist sie ein Anlass, noch einmal genauer hinzusehen.
Was bedeutet Egoismus?
Ein paar Definitionen:
Definition 1: Wikipedia
„Egoismus = Eigennützigkeit. Handlungen werden danach beurteilt, dass sie den Vorteil des Handelnden maximieren – meist ohne Rücksicht auf andere.“
Definition 2: Wiktionary
Ableitung: aus lateinisch ego („ich“) + Suffix -ismus. Der Begriff bezeichnet eigennütziges Verhalten oder Ichbezogenheit.
Definition 3: EBESCO (philosophisch)
Egoismus = Konzept, bei dem Selbstinteresse das primäre Ziel menschlicher Handlung ist, mit Variationen in moralischer Bedeutung.
Diese Definitionen zeigen: Egoismus ist vielschichtiger, als wir im Alltag annehmen. Im allgemeinen Sprachgebrauch überwiegt die negative Bedeutung – „Eigennützigkeit ohne Rücksicht auf andere“.
Meine Erfahrung
Ich werde nur ungern mit Egoismus in Verbindung gebracht. Doch wo verläuft die Grenze zwischen Selbstfürsorge und Egoismus?
Ich habe mich immer im Dienst derjenigen gesehen, die Aufgaben nicht erledigen können oder wollen. Schon früh engagierte ich mich bei der freiwilligen Feuerwehr und später als Soldat. Auch im Alltag war ich bemüht, anderen zu helfen, sie zu entlasten oder ihnen zuvorzukommen.
In jungen Jahren spielte Egoismus kaum eine Rolle. Aber ich bemerkte, dass Vorwürfe immer dann kamen, wenn ich einmal Zeit für mich beanspruchen MUSSTE – und in der Folge nicht wie gewohnt verfügbar war.
Mit zunehmendem Alter stellte ich zwei Dinge fest:
- Ich wurde oft ausgenutzt.
- Ich bekam selten die Unterstützung zurück, die ich anderen selbstverständlich gab.
Dazu kamen körperliche Veränderungen, eingeschränkte Leistungsfähigkeit und gesundheitliche Probleme.
Noch lange vor der Krebsdiagnose begann ich deshalb, genauer abzuwägen, bevor ich Hilfe anbot. Besonders beruflich habe ich mich mehr als einmal an den Rand des Abgrunds gebracht, weil ich das Berufliche über das Persönliche stellte.
Der Wendepunkt
Mit dieser Haltung wuchsen auch die Vorwürfe des Egoismus – offen oder versteckt. Oft ausgerechnet von Menschen, denen ich selbst eine egoistische Ader zuschreiben würde. Diese Vorwürfe haben mich getroffen. Zu oft bin ich in alte Muster zurückgefallen.
Seit der Krebsdiagnose ist das anders. Ich habe erkannt: Ich muss mich zuerst um mich kümmern, bevor ich für andere da sein kann.
An meinem grundsätzlichen Verhalten hat sich nicht viel verändert. Ich bin nach wie vor hilfsbereit. Aber zwei Dinge sind heute anders:
- Ich helfe nicht mehr jedem. Ich selektiere, priorisiere und wäge ab.
- Meine Motive haben sich verändert. Früher half ich, weil ich glaubte, es sei meine Pflicht. Heute helfe ich, weil ich es will.
Allein diese Verschiebung bringt Klarheit – und hält meine Hilfsbereitschaft in einem gesunden Maß.
Erwartungen und Missverständnisse
Ich weiß, dass das im Außen schwer greifbar ist. Unser Leben ist voller Erwartungen, die wir gewohnt sind zu erfüllen. Doch genau das führt zu Missverständnissen, Groll und Unzufriedenheit.
Ein Beispiel:
Biete ich einer alten Dame im Bus meinen Sitzplatz an, ist es im Außen völlig egal, ob ich es tue, weil es erwartet wird, oder weil ich es selbst will. Für mich im Inneren aber ist der Unterschied gewaltig.
Biete ich den Platz nicht an, wird es fast sicher eine Reaktion geben. Dann ist es egal, welche Motive ich habe – Thema ist allein die nicht erfüllte Erwartung. Und schnell fällt das Wort: Egoismus.
Mein Fazit
Wo endet Selbstfürsorge, wo beginnt Egoismus? Warum gilt es als akzeptabel, wenn ein Kranker auf sich selbst achtet – aber nicht im gleichen Maß, wenn ein Gesunder es tut?
Für mich ist die Antwort klar:
Egoismus beginnt dort, wo mein Handeln anderen schadet. Selbstfürsorge beginnt dort, wo ich mir erlaube, mich selbst ernst zu nehmen. Alles andere ist nur eine Frage der Perspektive.
Wie steht ihr dazu? Schreibt es gerne in die Kommentare.
